Laudatio der Kunsthistorikerin und Kunstpädagogin Dr. Annette Schemmel (München) anläßlich der Ausstellungeröffnung am 17.06.2022

 

Bilder haben Macht. Ob die Authentizität von Fotos aus dem Ukrainekrieg infrage steht oder ob wir rätseln, wie wir unsere Kinder vor den Folgen ihrer fotografischen Selbstdarstellung im Netz schützen sollen: stets geht es um die Macht der Bilder. Dabei sind es wir Menschen, die die Bilder mächtig machen. Wir selbst lesen etwas in sie hinein, ohne Betrachtende sind die Bilder nichts. „Fasst unsere Bilder nicht an!“, fordern wir von den Internetplattformen. Weil wir wissen, dass Bilder missbräuchlich verwendet werden können, weil sie machtvolle Wirkungen entfalten können, begegnen wir ihnen mit Respekt und deshalb verweisen wir auch Andere im Umgang mit unseren Bildern in ihre Schranken. Bilder bekommen durch uns eine eigentümliche Autorität.

Die Frage nach der Autorität der Bilder stellt sich in ganz besonderer Weise für Fotograf:innen, für Dokumentarfilmer:innen und Künstler:innen, für die Profis des gut gemachten Bilds, die ich hier unter dem Begriff „Bildermacher:innen” zusammenfassen werde. Bildermacher:innen sind dafür ausgebildet, Bilder nach allen Regeln der Kunst zu gestalten. Sie sind außerdem dafür geschult, die Macht der Bilder gezielt einzusetzen, etwa indem sie Anspielungen machen, z.B. auf die Freiheitsstatue mit ihrer besonderen Pose oder auf den Blick in den Rückspiegel, ein berühmtes Film-Still. Die Bildermacher:innen nutzen also die besonders große Autorität derjenigen Bilder, die in die Geschichte eingegangen sind oder die Kunstanspruch erheben.

Die Integrität ihrer eigenen Bilder schützen Bildermacher:innen mit besonderer Sorgfalt, denn mit den Bildern steht ihre Professionalität auf dem Spiel. Es geht um die richtigen Kontexte, in denen die Bildautor:innen ihre Bilder sehen wollen; es geht um gestalterische Entscheidungen, die ein für alle mal getroffen wurden, etwa hinsichtlich des Formats; und es geht nicht zuletzt um den Lohn für die Arbeit an den Bildern. Die Bilder von Profis dürfen daher nicht ungefragt reproduziert, beschnitten oder anderweitig verfälscht werden, dagegen sind sie rechtlich geschützt. Dieser Schutz stärkt die Autorität der Bilder noch von einer anderen, von der professionellen Seite.

Die Ausstellung „Liaison 22“ bricht auf aufregende Weise mit diesen durchaus sinnvollen Konventionen, denn sie hinterfragt auf künstlerische Weise die Autorität der Bilder. Wie denn, werden Sie fragen. Mittels einer raffinierten Respektlosigkeit, lautet meine Antwort. Lassen Sie mich das erklären: Die Tableaus, die wir hier zu sehen bekommen, sind aus einzelnen Fotos unterschiedlicher Urheber:innen zu neuen Serien zusammen gesetzt. Und nicht nur das, die Einzelbilder der Serien stammen zudem aus so unterschiedlichen Genres wie der Food Photography und der journalistischen Dokumentarfotografie, aus der Modefotografie und der Architekturfotografie.

Diese Bandbreite überrascht, denn jedes dieser fotografischen Genres hat doch seine eigenen Spielregeln! Die derart spezialisierten Fotograf:innen arbeiten in jeweils eigenen Bezugssystemen, sie pflegen jeweils unterschiedliche Verhältnisse zu ihren Auftraggeber:innen und begegnen spezifischen Erwartungen seitens der Betrachtenden. Von Food Photography erwarte ich zum Beispiel, dass sie auf nie dagewesene Weise meine Sinne anspricht, also ästhetisch sein soll und dass sie zeitgenössische Vorstellungen von Ernährung und Esskulturen transportiert. An journalistische Fotos trage ich ganz andere Erwartungen heran: Von Ihnen erwarte ich mir in aller Naivität Authentizität und Beweiskraft, Aufklärung und Haltung.

Dass derart unterschiedlich geartete Bilder in den Serien dieser Ausstellung zu neuen Bildsequenzen zusammen gebracht werden, auf jeweils einem gemeinsamen Bildträger, ist eine Grenzüberschreitung. Denn diese Art der Vermischung vermeidet man für gewöhnlich, schließlich kann man so unterschiedliche Bilder nicht über einen Kamm scheren – oder? Diese Ausstellung beweist das Gegenteil. Denn dort, wo die Bilder aus den Grenzen ihrer Genres gelöst werden, entsteht Raum für Neues. Die Einzelbilder können in den Serien, die hier zu sehen sind, neue Beziehungen eingehen, sie fügen sich in teils ganz unerwartete Narrative. Aus einer Strassenszene mit Hund neben einer Frau auf ihrem herrschaftlichen Bett und dem Blick auf ein elegantes Interieur wird in der Reihung eine kleine Geschichte, vielleicht eine Liebesgeschichte. Auch ohne den Blick auf den Titel der Serie vermittelt sich diese Atmosphäre, denn eine derartige Reihung spricht unsere Seh- und Lebenserfahrung an. Jede der Reihen hat einen besonderen gemeinsamen Nenner, der die Bilder in Bezug zueinander setzt. Mal ist es ein Motiv, z.B. eine verwitterte Wand, die in allen Bildern der Reihe vorkommt und die uns Geschichten mit verfallenden Gebäuden als Schauplätzen in Erinnerung ruft, mal sind es Farbklänge oder Raumachsen, die sich in den Nachbarbildern fortsetzen und die so den gemeinsamen Raum der Serie erschaffen.

Weil die Besonderheiten der einzelnen Genres in die Einzelbilder der Serien eingeschrieben sind, weil zu erkennen bleibt, dass sie unterschiedlicher Herkunft sind, sind die neuen Bildbeziehungen aufregend. Darauf spielt der Titel der Ausstellung an. Es sind lockere Bündnisse, die die Bilder zu Serien verbinden, formale oder inhaltliche Berührungen, erotische Anziehungskräfte eher als dauerhafte Bindungen, eben „Liaisons“. Der Experiment-Charakter dieser Bündnisse auf Zeit darf sichtbar bleiben.

Das Experiment, das diese Ausstellung hervorgebracht hat, war wie jede ordentliche Versuchsanordnung auf klare Regeln gestützt. Ein Fundus aus 2000 Bildern wurde zusammen getragen von einer Runde Bildermacher:innen, die sich von ihrer Ausbildungszeit an der renommierten Münchner Fotoschule kennen. Aus diesem Fundus hat Gabriele Wengler dann die Serien geschaffen, die wir hier sehen. Gabriele Wengler ist ebenfalls Absolventin der Foto-Schule, aber sie ist inzwischen als Regisseurin tätig und als Regisseurin ist sie in besonderer Weise darin geübt, Szenen zu Geschichten zusammen zu fügen. Die anderen Bildautor:innen haben ihr ungewöhnlich große Eingriffsmöglichkeiten gewährt, im Gegenzug war ihnen ein Vetorecht gegenüber denjenigen Serien sicher, in denen ihre Bilder vorkommen. So war die Zusammenarbeit klar geregelt.

Die Serien, die wir hier sehen, sind also das Ergebnis eines künstlerischen Experiments, das einen kollektiven Prozess voraussetzte. Das Vertrauen, das für dieses ergebnisoffene Gemeinschaftsprojekt nötig war, ist aber im Feld der selbständig arbeitenden Bildermacher:innen absolut keine Selbstverständlichkeit, denn dort, wo es um Bilder und bildende Kunst geht, ist das professionelle Leitbild stets das einzelgängerische Genie. Auch insofern bricht diese Ausstellung mit Konventionen. Das Interesse für das Arbeiten in der Gruppe lässt sich in Verbindung bringen mit dem Anliegen der wichtigsten deutschen Kunstausstellung mit globaler Reichweite, mit der documenta fifteen, die nur alle fünf Jahre stattfindet, aber zufällig ebenfalls heute eröffnet. Ein Kurator:innenkollektiv aus Indonesien zeichnet für die diesjährige Ausgabe der Documenta verantwortlich, bei der es ebenfalls um Kollektivität geht und darum, die Kreativität Einzelner in den Dienst unterschiedlicher Gemeinschaften zu stellen. Dafür kommen Kollektive mit Kunstbezug aus der ganzen Welt in Kassel zusammen. Die Macher:innen von „Liaison 22“ sind insofern völlig up-to-date.

Die Lust auf das Gemeinschaftliche beruht bei der hier ausstellenden Gruppe übrigens auf einer von uns allen geteilten Erfahrung der letzten Zeit, denn die Idee zu dieser Ausstellung entstand während des Lock-Downs. Weil Kontakte zeitweilig ganz verboten waren, wurde uns deutlich, wie abhängig wir von einander sind – auch als Freund:innen und Kolleg:innen im professionellen Bereich – und wie schön es ist, sich gegenseitig vertrauensvoll begegnen zu können. Die eigenen Bilder auch einmal loszulassen, sich auf ihre Neukontextualisierung durch eine Vertrauensperson einzulassen, fiel unter dem Eindruck der pandemiebedingten Vereinzelung leichter. „Lasst uns etwas Gemeinsames machen!“, sagten die Einen. „Ich gebe meine Bilder frei dafür!“, hörten sich die Anderen sagen. Krisen katalysieren eben oft Neuerungen. Diesen Vertrauensvorschuss, den die beteiligten Bildermacher:innen, die Fotograf:innen und Regisseur:innen geleistet haben und ihren gemeinsamen Einsatz für dieses Ausstellungsprojekt wollen wir heute feiern. Genießen Sie mit uns diese unverhofft-überraschenden Bildergeschichten! Ich wünsche dem gelungenen Experiment eine gelingende Eröffnung!

Dr. Annette Schemmel


 

 

Die Ausstellung ist jeweils an Wochenenden bis einschließlich Sonntag 03.07.2022 geöffnet.

Öffnungszeiten:

Freitag, 16.00 bis 18.00 Uhr

Samstag, 10.00 bis 18.00 Uhr

Sonntag, 10.00 bis 18.00 Uhr